Das Tagebuch von Anne Frank als Leitfaden gegen Diskriminierung

Was haben die Sätze eines jungen Mädchens aus der Nazi-Zeit mit Rassismus, Intoleranz und Sexismus zu tun? Ziemlich viel, erklären zwei Anne-Frank-Botschafterinnen, die sich für eine tolerantere und offenere Gesellschaft einsetzen.

Anne Frank-Botschafter*innen beziehen die Erfahrungen und Beobachtungen, die Anne Frank in ihr Buch schrieb, auf die Gegenwart; (Screenshot, Webseite)

Es ist eigentlich nur ein kleines Notizbuch – doch die Sätze, die Anne Frank zwischen 1942 und 1944 in ihrem Tagebuch niederschreibt, gehören zu den wichtigsten Zeugnissen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Erzählungen einer jungen, reflektierten Frau, die als Jüdin Opfer des Rassenwahns der Nazis wurde. Daran zu erinnern und gegen Hass und Intoleranz zu kämpfen, haben sich die Anne Frank-Botschafter*innen zum Ziel gesetzt.

Denn das Zeitzeugnis reicht weit über die Lebenszeit von Anne Frank hinaus, die 1945 im KZ Bergen-Belsen starb. Das zeigen auch Nele Förter-Barth und Isabel Schroer, die in der Vergangenheit als Botschafter*innen vom Anne Frank-Zentrum ausgezeichnet wurden. Voraussetzung für diese Auszeichnung ist die Umsetzung von Projekten, mit denen sie auf Intoleranz aufmerksam machen, sich gegen Diskriminierung und Rassimus oder für Gleichberechtigung einsetzen. Sie beziehen die Erfahrungen und Beobachtungen, die Anne Frank in ihr kleines Büchlein schrieb, auf die Gegenwart.

Der alltägliche Sexismus

„Anne Frank war eine starke Frau“, ist Nele Förter-Barth überzeugt. Im September wurde sie für ein Teamprojekt zur Botschafterin ernannt, das sie mit umgesetzt hat. Sie begründete zusammen mit Mitschüler*innen in Ludwigshafen am Rhein das Projekt „Equalitea“, eine Plattform, auf der Frauen und junge Mädchen anonym von Diskriminierung und Sexismus berichten können. Veröffentlicht werden die Erfahrungen auf Instagram, wo auf diesem Weg inzwischen eine ganze Sammlung solcher Berichte zu finden ist. Sexistische Sprüche, Auseinandersetzungen mit Geschlechtergerechtigkeit, inzwischen ergänzt um Hintergründe und Informationen, beispielsweise zu der Frage, ab wann ein unangebrachter Spruch schon als sexuelle Belästigung gilt. Auch über ein Jahr nach der ersten Idee geht ihnen das Material nicht aus, berichtet die Nele Förter-Barth.

Dabei fing alles im kleinen Rahmen an. „Wir haben erst in unserem direkten Umfeld nach solchen Erfahrungen gefragt“, berichtet sie. Später kamen Erfahrungen anderer Frauen dazu, die ihnen direkt berichteten. „Das hat sich nach und nach ergeben“, erzählt sie weiter. Auch spannende Diskussionen hätten sich zwischenzeitlich unter den einzelnen Beiträgen entwickelt, daraus wären dann wieder andere Berichte und Themen entstanden. Die Erfahrungsberichte werden anonymsiert, „Equalitea“ können Betroffene entweder direkt über Instagram kontaktieren oder auch über eine alternative Plattform, die schon beim Nachrichteneingang anonym ist.

Der aktuelle Fokus von „Equalitea“ liegt laut Nele Förter-Barth auf Erfahrungen sexueller Belästigung. Die 18-Jährige hat zwar inzwischen ihr Abitur in der Tasche, „Equalitea“ will sie als Teamprojekt aber erhalten und weiterführen. Aktuell würden sie sich gerade darüber Gedanken machen, wie sie mehr Nachrichten veröffentlichen können, mehr Aufmerksamkeit für den alltäglichen Sexismus erzeugen können – und natürlich wie das Projekt über die Schulzeit hinaus bestehen kann.

Mensch sein – erst Recht mit Behinderung

Auch Isabel Schroer kämpft als Anne Frank-Botschafterin zwei Jahre nach ihrem ursprünglichen Projekt weiterhin gegen Rassismus und Diskriminierung. In „Jugend gegen Barrieren“ hatte sie 2018 Menschen mit Behinderung interviewt. Sie berichteten im Video darüber, wie sie aufgrund ihrer Behinderung im Alltag diskriminiert werden. „Anne Frank wartet auf den Moment, an dem alle Menschen wieder Menschen sein können“, interpretiert die Düsseldorferin den Anspruch von Anne Frank. Egal um welche Art von Unterschied es gehe, Anne Frank stehe für Gleichberechtigung und Toleranz. Aspekte, für die sie sich auch schon vor dem Projekt eingesetzt hat, für das sie 2018 ausgezeichnet wurde – und für die sie auch weiterhin brennt. Neben dem Projekt bezeichnet sie den Freiwilligendienst in Costa Rica nach ihrer Schulzeit als die prägendste Zeit in ihrem Leben.

Den Projekten geht zunächst ein Seminar voraus, bei dem sich die Teilnehmer*innen kennenlernen und Ideen entwickeln können – Ausgangspunkt ist die Wanderausstellung zu Anne Frank, in der Jugendliche anderen Jugendlichen von dem berühmten Mädchen erzählen. Für die Umsetzung ihrer Ideen werden sie schließlich als Botschafter*innen ausgezeichnet.

Emanzipation mit Anne Frank

Unterschiedliche Projekte, unterschiedliche Heimaten – und doch bezeichnen beide die Arbeit als Anne Frank-Botschafterin als prägend für ihre Entwicklung. „Ich sage meine Meinung, ich nehme kein Blatt mehr vor den Mund“, sagt Nele Förter-Barth selbstbewusst, „Das ist mit eine der wertvollste Zeiten in meinem Leben gewesen“, sagt Isabel Schroer rückblickend. Schroer unterstützt inzwischen nicht nur die Arbeit des Anne Frank-Zentrums in Deutschland, sondern engagiert sich im Zusammenhang mit dem Anne Frank-Haus in Amsterdam auch international als Jugendmentorin. Es ist der Austausch von Erfahrungen, die Diskussion mit Gleichgesinnten, die aus ihrer Sicht dabei so wertvoll sind.

Das Anne Frank-Zentrum ist die deutsche Partnerorganisation des Anne Frank-Hauses in Amsterdam. Zu dem Engagement gehört eine Wanderausstellung für Jugendliche, in der die Schülerinnen und Schüler von Jugendlichen geführt werden – aus diesem Umfeld stammen auch die Anne-Frank-Botschafterinnen. Das Zentrum unterstützt sie in Seminaren bei der Ideenfindung bis hin zur Umsetzung.

Der Text ist auf vorwärts.de erschienen. von Benedikt Dittrich am 28.10.2020