Das Grundgesetz garantiert unveräußerliche Menschenrechte, politische sowie persönliche Freiheit. Doch wer genauer hinsieht, entdeckt noch Spuren der NS-Diktatur.
Sogar ein Unrechtsstaat braucht Gesetze. Um die Bevölkerung zu steuern und zu terrorisieren, beschloss die NS-Regierung stetig neue Vorschriften und passte bereits geltende an ihre völkische Weltanschauung an. Nach dem Weltkrieg lag Deutschland samt seiner Rechtsordnung in Trümmern. Die Besatzungsmächte mussten nun die Überreste des Regimes loswerden.
Am 20. September 1945 erließ der Alliierte Kontrollrat sein erstes Kontrollratsgesetz. Es hob Hitlers Ermächtigungsgesetz und alle politischen NS-Vorschriften mit sofortiger Wirkung auf. Auch die Benachteiligung von Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder ihres Glaubens war von nun an untersagt. Es folgten 61 weitere Kontrollratsgesetze, die Deutschland entnazifizieren und das Fundament für einen demokratischen Verfassungsstaat legen sollten. Die Alliierten konnten jedoch nicht alle NS-Überbleibsel beseitigen.
Nomen est omen
Schon das juristische Verlagswesen weist Spuren der Nazi-Zeit auf. An jeder deutschen Uni tragen Jura-Studierende mit ihrer Schönfelder-Gesetzessammlung den Nachnamen eines Nationalsozialisten spazieren. Der ehemalige Herausgeber Heinrich Schönfelder war bis zu seinem Tod im Jahre 1944 NSDAP-Mitglied und Mitwirkender im Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen. Er ist nach wie vor Namensgeber des dicken roten Buchs, das in jedem deutschen Gerichtssaal steht. Im Inhaltsverzeichnis des Schönfelders sind die Nummern 1-19 leer gelassen. Sie beinhalteten einst das Parteiprogramm der NSDAP sowie die Nürnberger Gesetze.
Auch der Palandt, klassisches Nachschlagewerk für das Bürgerliche Gesetzbuch, hat ein NSDAP-Mitglied zum Namenspaten. Trotz heftiger Kritik, etwa durch die Initiative Palandt Umbennenen, verzichtet der Verlag C. H. Beck auf die Umbenennung des Werkes. Wo Studierende der Architektur davon verschont bleiben, sich mit dem Albert-Speer-Lehrbuch für Statik und stabile Baukonstruktion auf die kommende Klausur vorzubereiten, müssen Jurist*innen also weiterhin mit Palandt und Schönfelder arbeiten.
Was noch heute gilt
Als 1949 das Grundgesetz in Kraft trat, war aus Hitlers Verbrecherregime ein souveräner Rechtsstaat geworden. Doch nicht nur überzeugte Altnazis konnten sich in die neue Bundesrepublik retten, auch Vorschriften des Nationalsozialismus hatten trotz der Kontrollratsgesetze überlebt. Einerseits fehlte den Alliierten die Zeit, das Rechtssystem grundlegend neu zu fassen, andererseits wurden nach 1949 Vorschriften leicht überarbeitet wieder in Kraft gesetzt. Manches steht noch heute in den Rechts-, statt den Geschichtsbüchern.
Feiertag
So greifen etwa die Feiertagsregelungen der Länder NS-Gesetzgebung auf. Der Erste Mai ist seit 1933 Ruhetag, damals noch als Tag der nationalen Arbeit. Um sich davon zu distanzieren, hat Nordrhein-Westfalen den Ersten Mai als Tag der Völkerversöhnung und Menschenwürde in seiner Verfassung verankert.
Berufszulassung
Das noch gültige Heilpraktikergesetz wurde ebenfalls unter Hitler erlassen. Es stammt aus dem Jahre 1939, wurde aber soweit abgeändert, dass es kein Unheil mehr anrichten kann. Im Nationalsozialismus untersagte es Ärzt*innen mit jüdischem Hintergrund, denen das Regime bereits die Approbation geraubt hatte, auch die Ausübung des Heilpraktiker*innengewerbes.
Zuchtmittel
Den im Jugendgerichtsgesetz verankerten sogenannten Zuchtmitteln sieht man ihren nationalsozialistischen Ursprung umgehend an. Zur Ahndung einer Straftat darf der*die Richter*in der*dem Jugendlichen für bis zu vier Wochen die Freiheit entziehen. Das Gesetz nennt den Arrest explizit nicht als Strafe, sondern versteht ihn als erzieherisches Mittel. Entgegen vieler Kritiken haben sich die Zuchtmittel bis heute im Paragraf 13 Jugendgerichtsgesetz gehalten. Nicht nur der Duktus ist aus der Zeit gefallen, viele Pädagog*innen bezweifeln auch die Wirksamkeit der damit verbundenen Maßnahmen.
Ehegattensplitting
Das Einkommenssteuergesetz enthält ebenfalls ein Vermächtnis der Diktatur. So löste das Gesetz zum Ehegattensplitting zwar 1957 seinen nationalsozialistischen Vorgänger ab, steht aber nach wie vor in der Tradition der NS-Familienpolitik. Das Regime wollte Frauen durch steuerliche Vorteile aus der Arbeitswelt drängen und an den Haushalt binden. Bis heute sorgt das Splitting dafür, dass viele Frauen bis ins Rentenalter wirtschaftlich schlechter gestellt sind.
Gesinnungsstrafrecht
Bekanntestes Überbleibsel nationalsozialistischer Gesetzgebung ist der Mordparagraf (§ 211 Strafgesetzbuch). Aus der Todesstrafe wurde zwar die zwingend lebenslange Freiheitsstrafe, der sonstige Wortlaut der Vorschrift blieb aber bis heute unverändert. Das Gesetz passt nicht in die Systematik des deutschen Strafrechts, das grundsätzlich die Tat und nicht den*die Täter*in beschreibt. Der Paragraf 211 formuliert hingegen, welche Gesinnung ein*e Mörder*in hat und zeichnet ihn*sie als jemanden, der*die „aus niedrigen Beweggründen“ tötet. Solche Formulierungen boten der NS-Rechtsprechung Spielraum für ihre Willkürurteile, stellen heutige Jurist*innen aber vor die Aufgabe, den rechtsstaatlichen Anforderungen an die Justiz gerecht zu werden. Ein Mann, der seine Frau über Jahre misshandelt und schließlich tötet, mag als sogenannter Totschläger nach einigen Jahren wieder auf freien Fuß kommen. Einer Frau, die sich gegen einen solchen Haustyrannen nur wehren kann, indem sie ihn im Schlaf erschlägt, droht als heimtückische Mörderin jedoch eine lebenslange Gefängnisstrafe. 2014 strebte Justizminister Maas eine Reform des Paragrafen an. Sie scheiterte am Widerstand der Union, die am lebenslangen Strafmaß festhalten wollte.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“
Artikel 1 des Grundgesetzes ist Gebot und Kampfansage zugleich. Die Verfassung will sichergehen, dass sich die NS-Barbarei niemals wiederholen wird. Deshalb stampft das Bundesverfassungsgericht jedes Gesetz ein, das gegen das Grundgesetz verstößt. Wie konnten sich die NS-Vorschriften dennoch halten?
Bei Gesetzen, die keine Grundrechte verletzen, mag dies einleuchten. Wenn offen diskriminierende Klauseln gestrichen sind, droht kein Verfassungsverstoß mehr. Auch das Ehegattensplitting benachteiligt nach seinem Wortlaut nicht explizit die Frau, auch wenn sie in der Praxis häufig die Leidtragende der Vorschrift ist. Doch beim Mordparagrafen ist die Frage schon schwieriger zu beantworten. Zwar ist er durch die Abschaffung der Todesstrafe entschärft, aber die zwingend lebenslange Haft und die schwammige Formulierung im Nazi-Sprech sind immer noch schwer mit dem Grundgesetz vereinbar. Manche Jurist*innen halten den Paragrafen für gerade noch konform, andere für schlicht verfassungswidrig. Eine umfassende Neuformulierung der Vorschrift würde den Konflikt lösen.
Dem pragmatischen Menschen genügt die bloße Entschärfung der NS-Gesetze. Bei sensiblen Themen geben sich viele damit aber nicht zufrieden. Denn anders als ein gesetzlicher Feiertag kann etwa das Strafrecht großen Schaden anrichten. Und wenn schon Recht im Namen des Volkes gesprochen wird, dann wird eben jene Bevölkerung das Recht besonders kritisch hinterfragen.
Jan Hußl
Mag sein Jurastudium, liebt Musik, Filme & das Schreiben. Vielleicht lässt er ein bisschen Prosa in die Examensklausuren einfließen.
Quelle: Ze.tt Autor: Jan Hußl am 07.09.2019